Will die Bayerische Staatsregierung die Demokratie zurückholen?

Hören wir hier richtig? Der Bayerische Ministerpräsident erklärt, dass Bürgerentscheide zunehmend als Blockade eingesetzt werden und deswegen "weiterentwickelt" werden müssen. Dazu soll ein runder Tisch einberufen werden, der dem Landtag Vorschläge über die richtige Austarierung der Balance zwischen Gemeinwohl- und Partikularinteressen unterbreiten soll.

Gerade in Zeiten schwindender Loyalität zur Demokratie sind verbindliche Bürgerentscheide ein wichtiges Element, um Demokratie zu erleben und Entscheidungen zu verstehen. Landauf landab gehen die völkisch-nationalistischen Kräfte erfolgreich mit dem Bild hausieren, etablierte Parteien würden ignorant über die Köpfe von Bürgerinnen und Bürgern hinweg Entscheidungen treffen. Da wäre es besonders fatal, wenn jetzt ein Rückzugsschritt bei der Bürgerbeteiligung eingeleitet werden sollte.

Interessant ist dieser Vorstoß auch angesichts von Bürgerentscheiden, die kürzlich stattgefunden haben. In Erlangen haben am 9.Juni Bürgerinnen und Bürger der Verwirklichung einer Stadt-Umland-Bahn-Trasse durch die Stadt per Bürgerentscheid zugestimmt. Da sie von überregionaler Bedeutung ist, mussten hier der Ministerpräsident und Jürgen Herrmann als Vorsitzender der CSU Mittelfranken persönlich überzeugend eingreifen. Die Zustimmung war mit 52,4% allerdings eher eng. Eine erhebliche Rolle spielte dafür auch die CSU-Stadtratsfraktion, die sich auf die Seite der "Blockierer" geschlagen hatte nachdem sie die seit 2016 laufende - bereits durch einen Bürgerentscheid bestätigte - Planung der Trasse mit unterstützt hatte.

In Regensburg lehnten Bürgerinnen und Bürger den Bau einer neuen Stadtbahn mit 53,6% ab. Die Stadtratsfraktionen der CSU und Freien Wähler hatten sich dabei keine zwei Wochen vor der Abstimmung per Pressemeldung deutlich gegen die Stadtbahn ausgesprochen. Bis dahin hatten sie alle diesbezüglichen Stadtratsbeschlüsse mitgetragen - so wie es in einem Koalitionvertrag mit SPD und Grünen auch vereinbart war. Die Koalition ist jetzt - nach dem Bürgerentscheid - auseinandergegangen.

Bereits im Januar 2024 stimmte die Gemeinde Mehring mit 61,5% gegen einen Windpark in den Staatsforsten in ihrer Nähe. Auch der Einsatz des Ministerpräsidenten und seines berühmten Stellvertreters halfen nichts. Allerdings musste Hubert Aiwanger unglücklicherweise einen geplanten Auftritt zum Thema in Mehring absagen, da er an dem Tag zu (fünf) Bauerndemonstrationen musste. Auch zwei Gemeinden in der Nähe (Kastl, Emmerting) hatten sich bereits per Gemeinderatsbeschluss gegen den Windpark ausgespochen (also "Blockade" ganz ohne Bürgerentscheid). In allen genannten Gemeinden sind übrigens CSU und Freie Wähler mit deutlicher Mehrheit in den Gemeinderäten vertreten.

In Marktl am Inn haben dagegen am 9.Juni 2024 60,17% der Abstimmenden dem Bau von Windrädern in einem nahegelegenen Staatsforstgebiet zugestimmt.  Vorausgegangen war das Engagement des Wirtschafts- und Energieministers Hubert Aiwanger vor Ort, um die Bürgerinnen und Bürger von der Akzeptierbarkeit des Windparks zu überzeugen  - auch durch angebotene Anpassungen und Reduzierungen. Man könnte dabei von einem erfolgreichen Ausgleich zwischen Gemeinwohl- und Partikularinteressen sprechen.
 
Möglicherweise erschwert es das Verwirklichen von erkannten Gemeinwohlinteressen, wenn man sich beispielsweise jahrelang öffentlich gegen den Ausbau von Windkraft gestellt und sie durch entsprechende Regelungen verhindert hat. Wenn man dazu erst vor Kurzem eine Positonsänderung bzgl. des Geweinwohls vorgenommen hat, dann besteht eben erhöhter Kommunikationsbedarf - insbesondere gegenüber den eigenen Anhängern. Hier sind Bürgerentscheide ein sehr geeigneter, wirkungsvoller Anlass, um die eigenen Unterstützer von der Richtigkeit der neuen Position zu überzeugen. Bürgerinnen und Bürger werden dann beim Ausgleich zwischen Gemeinwohl- und Partikularinteressen mitgenommen. Dadurch kann dann auch eine erfreuliche Wirkung in Bezug auf die Loyalität von Bürgerinnen und Bürgern zur demokratischen Staatsform erwartet werden.

Bürgerentscheide führen dazu, dass man parteitaktisch das Fähnchen nicht mehr so ohne weiteres in den aktuellen Wind stellen kann ohne dass es Konsequenzen hat. So etwas führt in die Sackgasse und man findet sich evtl. in einer blockierten Situation wieder. Konsequente und mutig kommunizierte Überzeugungen - auch dann, wenn sie mit dem politischen Gegner übereinstimmen - führen in die Zukunft. Würde das irgendwer bestreiten?

Wir bei Mehr Demokratie wissen, woher der Wind weht. Unser Fähnchen ist jedoch eine Standarte. Sie zeigt unveränderlich in die Richtung, dass Bürgerinnen und Bürger in den Kommunen über alle Fragen entscheiden können, über die ein Gemeinde- oder Stadtrat auch entscheiden kann. Diese Möglichkeiten müssen verbessert und ausgebaut werden.

Es ist unklar, ob der Ministerpräsident mit dem Stichwort "Weiterentwicklen" im Sinn hat, Bürgerentscheide einzuschränken. Falls die Staatsregierung jedoch dafür offen sein sollte, Blockadesituationen dadurch zu reduzieren, dass die Verfahren verbessert werden, dann können wir das nur begrüßen. Bürgerräte, Abstimmungshefte und die Absenkung der Zustimmungsquoren können dabei ins Spiel kommen. Wir werden damit auf die Bayerische Staatsregierung zukommen.


Links zu weiteren Infos:

Regierungserklärung vom 13.06.2024 (Thema Bürgerentscheid ab min 37:25 für ca. 1:44min)

Artikel SZ Stadt-Umland-Bahn Erlangen

Artikel SZ Stadtbahn Regensburg

Artikel BR Windpark Mehring

Pressemitteilung zu Marktl am Inn