Wo bleibt der „demokratische Kompass“?

Demokratiepolitische Einschätzungen und Forderungen zur Corona-Krise

Freiheit außer Betrieb und abgestellt - wie lange?

Für Bürgerinnen und Bürger mit freiheitlichen Grundwerten ein Albtraum: Aktuell werden verfassungsrechtlich garantierten Grundrechte in einem Tempo ausgesetzt, das vor wenigen Wochen unvorstellbar war. Individuelle Freiheitsbeschränkungen mit Kontaktverboten und bis ins Detail ausgearbeitete Sanktionsdrohungen: Mit dem Bußgeldkatalog gegen die bürgerlichen Freiheiten!

Aber auch dies gilt: Priorität für den Schutz des Lebens der Schwächsten, gesellschaftliche Solidarität, wie es die Politik derzeit konsequent macht. Denn wenn das Recht auf Leben – das Wichtigste unserer Grundrechte – insbesondere bei Risikogruppen im Zuge einer Pandemie gefährdet ist, dann erscheint eine vorübergehende Einschränkung der Freiheitsrechte aller als gerechtfertigt.

Deutlich wird in dieser Krise, dass es vorrangig der Staat ist, der die Macht hat, eine Pandemie wirksam zu bekämpfen. Im Gegensatz zur Marktgläubigkeit der letzten Jahrzehnte wird deutlich, dass es von uns Bürgerinnen und Bürgern getragene staatliche Strukturen sind, die Sicherheit und Schutz in Krisenzeiten bieten können. Unternehmen – auch die Klein- und Mittelständler, die bislang die existenzbedrohenden Auswirkungen des Lockdowns ertragen – leisten in diesem Rahmen ihren wichtigen Beitrag zur Bewältigung der Pandemie.

Von der Macht des Staates können in solchen Zeiten jedoch auch Gefährdungen ausgehen. Nicht nur wurden seitens der Politik in Krisen auch schon immer zentrale Grundrechte außer Kraft gesetzt, wie es gegenwärtig beispielweise in Polen, Ungarn und Israel zu beobachten ist. Pandemien bringen es zudem mit sich, dass politische Entscheidungsträger in einem erheblichen Ausmaß von Ratgeber*innen und Institutionen aus der Wissenschaft abhängig werden. Jede Woche werden allerdings mehr Stimmen von Mediziner*innen, Jurist*innen, Ökonom*innen und Ethiker*innen laut, die massive Kritik an der wissenschaftlichen Tragfähigkeit der derzeitigen Entscheidungsgrundlagen üben. Auch sie sollten bei den politischen Entscheidungsträgern Gehör finden.

Da sich die politische Legitimität der gegenwärtigen Grundrechtseinschränkungen aus den Empfehlungen von wissenschaftlichen Expert*innen ableitet,

…müssen die Regierungen der Länder und des Bundes sicherstellen, dass sich der wissenschaftliche Diskurs in der Auswahl der wissenschaftlichen Berater*innen abbildet;

…sollten vorrangig fundierte Baseline-Studien mit repräsentativen Grundgesamtheiten in Auftrag gegeben werden, um Modellsimulationen empirisch aussagekräftig zu machen;

…müssen sämtliche Daten und Analysen veröffentlicht werden, was auch für die Zahl der durchgeführten SARS-CoV-2-Testungen gilt, denn mangelnde Transparenz gefährdet das Vertrauen in Wissenschaft und Politik und untergräbt die notwendige Solidarität mit Risikogruppen;

…muss transparent gemacht werden, welche wissenschaftlichen Expert*innen die Landes- und Bundesregierung warum, wann und mit welchem Ergebnis beraten haben.

Wissenschaft ist nur so gut, wie der offene Diskurs, den sie führt. Und die politischen Maßnahmen gegen die Pandemie können nur so legitim sein, wie es der Gültigkeit und Vertrauenswürdigkeit der wissenschaftlichen Erkenntnisse entspricht. Ein „Klumpenrisiko“ bei der Auswahl von wissenschaftlichen Berater*innen muss vermieden werden, um der Gefahr einer „Expertokratie“ vorzubeugen.

Auch wenn wir, zumindest in Deutschland, von einer Gesundheitsdiktatur noch weit entfernt sind, so können die aktuellen Freiheitseinschränkungen nur dann toleriert werden, wenn sie reversibel, zeitlich klar begrenzt und jederzeit dem gesellschaftlichen Diskurs ausgesetzt sind. Letzteres, das Streiten und Diskutieren, das Für und Wider, das Ringen um Argumente und Lösungen, findet derzeit zu wenig in der Gesellschaft und in den Parlamenten statt. Allenfalls vereinzelt stellen (größtenteils bereits abgewiesene) juristische Klagen die aktuellen Ausgangsbeschränkungen in Frage. Für die demokratische Legitimation ist es unabdingbar, dass sich mehr Jurist*innen, Ökonom*innen und Mediziner*innen – und letztendlich wir alle – Gedanken über die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen machen. Der wissenschaftliche und zivilgesellschaftliche Input für die politischen Entscheidungsträger muss auf eine merklich breitere Basis gestellt werden. Debatten sind das Immunsystem unserer Republik; eine restriktive Einmischung in bürgerliche Freiheiten legitimiert sich niemals durch „Alternativlosigkeit“.

Um einer möglichen Gefährdung für bürgerliche Freiheiten und demokratische Mitbestimmungsrechte vorzubeugen, müssen sämtliche grundrechtsbeschränkenden Maßnahmen im Zuge der Pandemie-Krise

…ausnahmlos befristet sein, und zwar muss die Frist jeweils so kurz gewählt werden wie möglich;

…dem Prinzip folgen, dass bei gleicher Wirkung der Maßnahme die weniger grundrechtsinvasive Variante vorgezogen wird;

…sofort eingestellt werden, sollten sie sich als unwirksam oder unverhältnismäßig erweisen;

…durch parlamentarische, zivilgesellschaftliche und breite wissenschaftliche Debatten legitimiert und nicht ausschließlich nach den Einschätzungen der Exekutive vollzogen werden, dies gilt insbesondere auch für neue Maßnahmen, deren Beendigung und die Erwägung von weniger grundrechtsinvasiven Alternativen;

…nach deren Beendigung unverzüglich und vollständig zurückgenommen werden. Die theoretische Aussicht, dass möglicherweise in der Zukunft eine weitere Pandemie ausbrechen könnte, ist keine Legitimation für die dauerhafte Aufrechterhaltung von Freiheitsbeschränkungen; dies gilt auch und insbesondere für eventuell in naher Zukunft eingeführte, digitale Überwachungsmaßnahmen wie das Contact-Tracing.

„Mehr Demokratie e. V.“ hat sich seit seiner Gründung nicht nur für die Erweiterung demokratischer Mitbestimmung eingesetzt, sondern sich immer auch gegen die Einschränkung demokratischer Mitbestimmungsrechte und freiheitlicher Grundwerte starkgemacht – so etwa bei den Freihandelsabkommen TTIP und CETA sowie der NoPAG-Initiative in Bayern.

Jetzt muss es heißen: Bleiben wir im Zuge der Pandemie-Krise solidarisch mit den Risikogruppen. Und verlieren wir nicht „nebenbei“ unseren demokratischen Kompass aus den Augen.

Bleiben Sie gesund!

Ihr Landesvorstand Bayern mit Geschäftsführung

Stefan Bauer, Andrea Beck, Linda Hummrich, Jörg Lipp, Susanne Socher, Simon Strohmenger, Dr. Christian Zeller