Leserbrief an den "Donaukurier": ausgewogenes Stimmungsbild bei Bürgerentscheiden

In seinem Kommentar  „Notorisch dagegen“ vom 01.06.2021 behandelt der Donaukurier-Chefredakteur Gerd Schneider das Thema Bürgerbegehren und stellt dabei zwei Kernaussagen auf. Er behauptet, Bürger:innen würden bei Bürgerentscheiden über Zukunftsprojekte meistens „dagegen“ stimmen und unterstellt Bürger:innen damit ein „Unbehagen vor dem Wandel“. Beiden Argumenten wird im Folgenden mit Blick auf die Daten entschieden widersprochen.

 

Seit 2020 mehr Zustimmung als Ablehnung für Großprojekte

Der Verein „Mehr Demokratie e.V.“ dokumentiert seit Einführung der direkten Demokratie auf kommunaler Ebene in Bayern vor 25 Jahren alle zivilgesellschaftlichen Initiativen, die einen Bürgerentscheid erzielen wollen. Bürgerentscheide über „Zukunftsprojekte“, wie sie Schneider in seinem Kommentar benennt („Windräder, Stromtrassen, Zugstrecken, Paketzentrum, Ferienpark“), werden in der Datenbank von Mehr Demokratie in den Kategorien „Wirtschaftsprojekte“, „Verkehrsprojekte“, „Öffentliche Infrastruktur- und Versorgungseinrichtungen“ sowie „Öffentliche Sozial- und Bildungseinrichtungen“geführt. Bereits ein Blick auf  Bürgerentscheide seit 2020 in der Kategorie „Wirtschaftsprojekte“ widersprechen Schneiders These, die Bürger:innen würden meistens „dagegen“ stimmen. Von den 12 Bürgerentscheiden, die seit 2020 im Sinne des Begehren ausgegangen sind, haben die Bürger:innen in 7 Fällen die Verwirklichung von (Groß-)Projekten beschlossen. Darunter finden sich Bürgerentscheide für Logistikzentren, für Freizeitparks, für den Bau von Straßen und Supermärkten.

Ebenso anschaulich wird es, wenn man wiederum Bürgerentscheide seit 2020 in der Kategorie „Wirtschaftsprojekte“ betrachtet, die „nicht im Sinne des Begehren“ ausgegangen sind. Dies trifft auf 13 Bürgerentscheide zu, von denen sich 9 gegen den Bau von (Groß-)Projekten gerichtet haben. Mit anderen Worten scheiterte die Ablehnung großer Projekte, weil sich die Bürger mehrheitlich für diese Projekte entschieden.

Eine Analyse von Mehr Demokratie zu Bürgerentscheiden über Investitionsprojekte in den Jahren 2006-2007 kommt zu ähnlichen Ergebnissen: Bürger:innen entscheiden bei Investitionsprojekten ausgewogen, etwa 50% der Entscheide gehen zugunsten großer Projekte aus, während ca. 50% der Entscheide gegen Großprojekte sind. Die These, Bürger:innen seien „notorisch dagegen“, wenn sie über „Zukunftsprojekte“ entscheiden dürfen, ist in dieser Form nicht haltbar. Dies hat nicht zuletzt der Bürgerentscheid pro Windkraft im Ebersberger Forst vom 16.05.21 erneut gezeigt.

 

Bürger:innen vor Ort wissen am Besten, was zukunftsfähig für ihre Kommune ist

Darüber hinaus ist die Zurückweisung eines Großprojekts in der eigenen Kommune nicht gleichzusetzen mit einer „Gesellschaft, die sich dem Fortschritt verschließt“ (Schneider, 01.06.21). So kommt die Analyse von Mehr Demokratie aus dem Jahr 2008 zu dem Schluss:

„Die Ausgewogenheit der Bürgerentscheide zeigt, dass Bürger durchaus  zwischen verschiedenen Werten, wie etwa Umweltschutz und Schaffung neuer Arbeitsplätze, abwägen können. Bürger besitzen aufgrund ihrer verschiedenen Lebenssituationen und Blickwinkel als Arbeitnehmer, Konsumenten, Anwohner, usw. eine breitere und ausgeglichenere Entscheidungsgrundlage als die Gemeinderatsmitglieder oder Unternehmensmanager. Oft wird ein Großprojekt als Bedrohung für die lokale Wirtschaft und Unternehmerschaft betrachtet und so erscheint es gerade aus Sicht der betroffenen Klein- und Mittelständler nur logisch und notwendig, sich per Bürgerbegehren zu artikulieren.“ (Hirschbeck/Rehmet, 2008: 7)

Bürger:innen, die über Großprojekt abstimmen, können also oftmals genauer einschätzen, ob es sich dabei um Fortschritt („was auch immer das heißen mag“) handelt. Nicht jedes Projekt, das wirtschaftlich auf dem Papier gut aussieht, macht für die Betroffenen vor Ort Sinn. Daher ist es die Souveränität der Bürger:innen, selbst über Großprojekte entscheiden zu können, die die spezifische Zukunftsfähigkeit der Kommunen sichert. Die Instrumente dafür sind in Bayern nach 25 Jahren direkter Demokratie fest verankert.

 

Quellen:

Hirschbeck, Anna; Rehmet, Frank (2008): Bürger als Investitionsrisiko? URL: https://bayern.mehr-demokratie.de/fileadmin/pdf/MD%20Studie%20Investitionsrisiko.pdf (aufgerufen am 04.06.21).

Schneider, Gerd (2021): Notorisch dagegen: Bürger machen mobil - aber wo bleibt der Fortschritt? URL: https://www.donaukurier.de/nachrichten/topnews/kommentare/Notorisch-dagegen-Buerger-machen-mobil-aber-wo-bleibt-der-Fortschritt;art337918,4779223 (aufgerufen am 04.06.21).