Grundrechte schützen in Zeiten von Corona

Zwischen „Verschwörungstheorie“ und „Verhältnismäßigkeit“

 

Wer in diesen Tagen gegen Corona-bedingte Einschränkungen demonstriert, findet sich in einer Zwickmühle wieder. Einerseits nimmt man mit dem Versammlungsrecht genau den Typ von Freiheitsrechten in Anspruch, die man, so weit wie unter den gegenwärtigen Umständen möglich, wiederhergestellt sehen möchte. Andererseits beschleicht einen das ungute Gefühl, dass man sich mit Gruppierungen versammelt, die Freiheitsrechte dazu nutzen, diese letztendlich in Frage zu stellen. Reichsbürger*innen, die „dem System“ den Garaus machen wollen, stehen Seit an Seit mit Kommunist*innen, die den virologischen Imperativ als Ausgeburt des bürgerlichen Staates ansehen. Und mittendrin: Impfgegner*innen, die in Bill Gates den Antichristen vermuten. Dogmatiker*innen aller Coleur scheinen Oberwasser zu wittern. Wie also aufbegehren im Spannungfeld von „Verschwörungstheorie“ und grundrechtlicher „Verhältnismäßigkeit“?i

„Verschwörungstheorie“ – Bemerkungen zu einem Begriff

Protest markiert Positionen, ist emotional, oft laut. Debatte versachlicht und rechtfertigt. Protest und Debatte gehören zusammen. Protest ist die emotionale Seite der Debatte, die gleichwohl nachvollziehbarer Rechtfertigung zugänglich sein muss. Debatte muss begründen, auch die emotionalen Gehalte des Protests. In einer guten Protestkultur muss jeder Protestierende gehört und als Gesprächspartner ernst genommen werden. Gleichzeitig müssen Protestler*innen zu diesen Begründungsleistungen auch bereit sein – bleibt es bei einem bloßen Aufschrei ist das noch keine Grundlage für ein Gesetz. Dieses wechselseitig aufeinander bezogene Bedingungsgefüge von Protest und Debatte wird unterminiert durch einen Ausdruck, der den öffentlichen Diskurs zu den Corona-Protesten dominiert – der Begriff der „Verschwörungstheorie“. Er wird in diesen Tagen von jenen eingesetzt, die sich schon immer auf der richtigen Seite wähnten (und die sich dadurch gegenseitig versichern, es zu sein): von Journalist*innen aus den großen Medienhäusern, aber auch von Politik-Profis, die damit missliebige Meinungen diskreditieren und diejenigen, die sie äußern, in die Schmuddelecke verweisen wollen. Diese zumeist moralisch hochmütige und sich geistig überlegen dünkende Rhetorik geht mit einer fatalen Wirkung auf den öffentlichen Diskurs einher. Denn der Begriff ent-differenziert, und zwar in dreifacher Hinsicht:

Personen, die als „Verschwörungstheoretiker“ adressiert werden, neigen, erstens, dazu, sich von der öffentlichen Meinungsbildung zu verabschieden. Und dies nachvollziehbarerweise: Denn sie werden nicht mehr als Gleiche, als gleichermaßen Vernünftige, angesprochen. Die Folge: Es werden eigene Diskursräume gebildet, in denen man, dann allerdings nur noch voreinander, Gehör findet, und man trägt dann seinen Protest vorgefertigt und revisionsresistent auf die Straßen – also gerade nicht mehr im Modus potentieller Debatte, die Protest eben auch ist. Das Etikett „Verschwörungstheorie“ vertieft somit in der gegenwärtigen Krise die viel beklagte Spaltung der Gesellschaft. Denn es ordnet Grauzonen des Meinens und Glaubens, aber auch politisch nicht erwünschte Meinungen, einem vermeintlich einheitlichen Milieu zu, eben dem der „Verschwörungstheoretiker“, und bringt es genau durch diese Etikettierung erst hervor. Indem der Begriff mit der großen Kelle auf seine Adressat*innen ausgegossen wird, bewirkt er, zweitens, auch eine sachliche Ent-Differenzierung des Diskurses. Im Zweifelsfall nämlich weiß ich gar nicht, was mein Gegenüber, der vermeintliche „Verschwörungstheoretiker“, eigentlich behauptet. Wackere Faktenchecker vermischen hier so einiges, wenn sie über „Mythen“ aufklären wollen. Denn was ist eine „Verschwörung“ im Kern? Eine Gruppe, die sich heimlich dazu verabredet, ihre Interessen ebenso heimlich gegen andere durchzusetzen. Jeder Betrieb, der mehr als drei Angestellte hat, kennt „Verschwörungen“ im Kleinen. Oder noch so eine „Verschwörung“: Haben Unternehmen ein Interesse daran, ihre Profite zu mehren, auch auf Kosten der Gemeinschaft, die ihnen ihren Erfolg erst ermöglicht? Für manchen Politiker, der von Maß und Mitte spricht, ist das schon eine „Verschwörungstheorie“. Aber das ist eine realitätsgerechte Beobachtung zu einer Wirtschaftsform, die nach dem Profitprinzip funktioniert und die für den Wohlstand unserer Gesellschaft auch Vorteile hat. Oder handelt es sich erst dann um eine Verschwörung, wenn es um etwas richtig Großes geht, also etwa um die Vorstellung, dass die Illuminaten bereits seit Beginn des 19. Jahrhunderts eine neue Weltordnung mit nur noch 500.000 Menschen planen? Zwischen diese Pole, Erkenntnis auf der einen Seite, unbelegte Behauptungen auf der anderen Seite, passt vieles. Aber das zeigt: Es hilft nicht weiter, wenn dieser Begriff den Diskurs anleitet. Nur vage meint man zu hören, etwas sei eine „Verschwörungstheorie“ und schon ist die Sache vom Tisch. Und zwar vor allem deshalb, weil man als vermeintlich Vernünftiger keinesfalls ebenfalls mit diesem Begriff belegt werden möchte. Zu diesem gehört, drittens, dass das, was gestern „Verschwörungstheorie“ war, heute schon legitimer Teil des öffentlichen Diskurses sein kann. Wie wurden doch Personen diffamiert, die auf dem bisherigen Höhepunkt der Corona-Pandemie die Ansicht vertraten, dass die Luftverschmutzung in Norditalien ihren Beitrag zur dortigen gesundheitlichen Situation, immerhin bei einer Lungenerkrankung, leistet? Mittlerweile ist dies Gegenstand ernsthafter Debatten aufgrund epidemiologischer Studien.ii


Die Alternative zur pauschalen Diffamierung als „Verschwörungstheoretiker“ ist einfach: Das Gespräch auf eine sachliche Ebene zu heben. Wie denkst du über X? Welche Belege hast du für Deine Sichtweise? Warum beunruhigt es Dich? Bill Gates will die Menschheit chippen: Sage mir bitte, was Du genau darüber weißt. Das SARS-CoV-2-Virus ist aus einem chinesischen Labor entwichen: Wie ist der momentane Kenntnissstand zu dieser Frage? Erst Dialoge dieser Art ermöglichen es, zwischen Glauben und Wissen zu unterscheiden. Freilich, es gibt Personen, die bereits den Widerspruch gegen ihre Sichtweise als einen Beleg für deren Gültigkeit ansehen und so ihre Weltsicht gegenüber Einwänden immunisieren. Mit solchen Leuten zu debattieren ist schwierig. Aber auch hier ist es besser, ruhig bei der Sache zu bleiben, anstatt sie pauschal als „Irre“ zu verurteilen und sie damit in ihrem Person-Sein abzuwerten. Insbesondere dann, wenn man als Journalist*in oder Politik-Profi über anerkannte und finanziell gut abgepolsterte Kanäle verfügt, mit denen man genau das tun kann, was die „Verschwörungstheoretiker“ nur über „das Internet“ oder eben auf der Straße machen können – nämlich sich Gehör zu verschaffen, als Stimme öffentlich wahrgenommen zu werden. Verlangen wir also von unseren Gesprächspartner*innen genau dies ab: Belege und Argumente beizubringen, von denen sie glauben, dass sie ihre Aussagen stützen und die rationale Basis für ihren Protest bilden. Die Abgrenzung von „Verschwörungstheorien“ gelingt paradoxerweise dann am besten, wenn ich dem Anderen kein stumpfes Begriffsschema überstülpe, sondern ihn konsequent in den Diskurs rationaler Wesen einbeziehe.iii Wie aber kann über Protest hinaus ein Diskursformat in der gegenwärtigen Krise aussehen, welches das vernünftige Gespräch als Grundlage von Gesellschaftsgestaltung so weit wie möglich ausdehnt?


Verhältnismäßigkeit – rechtlich und politisch

Verhältnismäßigkeit ist zunächst ein juristischer Begriff. Er bezeichnet das Gegeneinanderabwägen von Eingriffen in Freiheitsrechte, die miteinander in Konflikt stehen. In Corona-Zeiten sind das: das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit gegen Rechte wie die freie Entfaltung der Persönlichkeit, Freizügigkeit, Religionsfreiheit oder eben Versammlungsfreiheit. Das Bundesverfassungsgericht war es, das Mitte April Zweifel an pauschalen Versammlungsverboten in Hessen erkennen ließ; Verwaltungsgerichte waren es, die Versammlungen zuließen. Im Falle der ersten Münchner Versammlung „Lesen für die Demokratie – Grundrechte wiederherstellen“ – organisiert von der ÖDP und Mehr Demokratie Bayern – erklärte der Bayerische Verwaltungsgerichtshof, dass „die verfassungsrechtlichen Maßgaben des Art. 8 Abs. 1 GG leerzulaufen drohen, wenn – wie hier – gegen die Zulässigkeit einer Versammlung pauschale Bedenken geltend gemacht werden, die jeder Versammlung entgegengehalten werden müssten, ohne dabei die im konkreten Einzelfall maßgeblichen Umstände (wie die Örtlichkeit, die voraussichtliche Teilnehmerzahl, das Thema und den lnhalt der Versammlung) in hinreichender und nachvollziehbarer Weise zu berücksichtigen.“iv


Ein differenziertes Abwägen der Grundrechtseinschränkungen ist das Gebot der Stunde und die Politik folgt diesem Prinzip zunehmend – auch infolge von Gerichtsurteilen. Und hier beginnt die  politische Dimension der Verhältnismäßigkeit. Denn zu unverhältnismäßigen Maßnahmen kommt es überhaupt erst dann, wenn die Politik auf einem Auge blind bleibt, bestimmte Gesichtspunkte systematisch ausgeblendet werden, und wenn Aspekte einer Krise, mögen sie auch für sich sehr gewichtig sein, schon für das große Ganze gehalten werden. Noch im Februar unterschätzte man das Ausmaß der drohenden Pandemie in Deutschland massiv und ließ fröhlich Karneval feiern, während der Flughafen Frankfurt als internationales Drehkreuz für Flugverkehr aus China einer der Virenschleudern des europäischen Kontinents war. Im März dann erreichte die internationale Panik auch die deutsche Politik. Und nach der Absage von Großveranstaltungen und der Schließung von Schulen folgte schließlich der Lockdown. Man hamsterte Klopapier und Nudeln, ansonsten war das Land wie gelähmt, Straßen und öffentliche Plätze leergefegt. Aus der historischen Betrachtung von Revolutionen weiß man: Aufbegehren und Protest entstehen nicht dann, wenn es den Menschen am schlechtesten geht, wenn die Ängste am ärgsten drücken, sondern dann, wenn es gerade wieder etwas aufwärts geht. Dann nämlich steigen die Erwartungen an die Besserung der Lage schneller als sich die tatsächlichen Verhältnisse zugunsten der Menschen wenden. Genau dies sehen wir gegenwärtig bei der Rückkehr zu einer „neuen Normalität“. Das, was vorher in Privatgesprächen und sozialen Netzwerken halböffentlich rumorte – siehe die Reaktionen auf den Krisen-Kritiker Dr. Wodarg, ebenfalls als „Verschwörungstheoretiker“ gebrandmarkt  –, bricht sich jetzt öffentlich Bahn. Dem Robert-Koch-Institut, das zwei Monate lang nicht genügend unbestätigte, zeitverzögerte, teilweise auch schlicht unseriös produzierte Zahlen zum Infektionsgeschehen verbreiten konnte, fällt sein Vorgehen nun wie ein Klotz auf die Füße. Man denke an die grundlegende Unterscheidung von Personen, die „mit“ oder „an“ Covid-19 sterben, die das RKI zu treffen nicht für notwendig hieltv; an Infektionszahlen, die in KW 11 auf KW 12 ausschließlich auf die Zahl erhöhter Testungen zurückzuführen waren, nach RKI-eigenen Dokumenten wohlgemerkt, während auf Pressekonferenzen der Eindruck vermittelt wurde, die Infektionszahlen seien objektiv gestiegenvi; an die über Wochen fehlende, aber entscheidende Differenzierung zwischen „Infizierten“ und „Kranken“vii; oder an die erst auf Druck von Fachverbänden revidierte Leitlinie, die der Medizin empfahl, auf das zentrale Erkenntnismittel der Obduktion bei an (oder mit?) Covid-19 verstorbenen Personen zu verzichtenviii. Nun glauben bestimmte Bevölkerungskreise, man höre und staune, dem RKI nicht mehr, und dies wird nun öffentlich sichtbar, und zwar obwohl, wie Virolog*innen zu Recht betonen, die niedrigen Infektionszahlen in Deutschland eben der Beleg dafür sind, dass die Maßnahmen grundsätzlich in die richtige Richtung gegangen sind.


Was also tun? Die Problematik der Verhältnismäßigkeit in ihrer politischen Dimension entsteht dann, wenn Bürger und Bürgerinnen nicht nur nicht ausreichend gehört werden, sondern faktisch auch nicht mitentscheiden können. Warum etwa sollte eine Arbeitsgruppe der Naturforscher-Akademie Leopoldina, bestehend aus Biologen, Bildungsforschern, Ethikern, Informatikern, Theologen und Werkstofftechnikern in so weitreichendem Maße über die Geschicke der Bundesrepublik in der Krise beratend Einfluss nehmen können? Warum ist hier ausschließlich die zahlenmäßig marginale gesellschaftliche Gruppe des (überwiegend männlichen) Hochschulprofessors vertreten? Was haben diese – in Bezug auf die gegenwärtige Pandemie-Thematik – „Laien mit Hochschulabschluss“ (so der Journalist Jürgen Kaube)ix sogenannten „einfachen“ Bürgerinnen und Bürgern in einer Krise wie der derzeitigen voraus, also in einer Situation, die gerade durch ihre Neuheit ohnehin alle für sicher gehaltenen Erkenntnissen und Routinen auf die Probe stellt? Geloste Bürgerräte beraten schließlich über Belange, die sie selbst existenziell betreffen und formulieren auf dieser Grundlage Empfehlungen für die politischen Repräsentant*innen. Ihre Einrichtung kann die Entscheidungsgrundlage der Politik deutlich verbessern und auf eine breitere Legitimationsgrundlage stellen. Dann entfällt auch das in der gegenwärtigen, teilweise Pegida-artigen Bewegung geäußerte Argument, dass „das Volk“ kein Gehör findet. Verhältnißmäßigkeit im politischen Sinne bedeutet: Die jeweils Betroffenen aus einer Situation heraus, in der sie die Perspektiven der jeweils anderen Betroffenen übernehmen können, über ihre eigenen Geschicke entscheiden zu lassen. Und das heißt: In sachlich strukturierten, menschlich wohlwollenden Kontexten reichhaltige, auch einander widersprechende Informationen zur Kenntnis zu nehmen, sie gemeinsam abzuwägen, um dann zu einem Schluss zu kommen, der sie vor dem Hintergrund der versammelten Lebenswirklichkeiten in eine gesellschaftsgestaltende Synthese bringt.


In solch deliberativen Verfahren würden schnell die Einseitigkeiten aufgedeckt, die entstehen, wenn die – als eine Sichtweise wichtige – Perspektive von Virolog*innen unter Vernachlässigung der gesellschaftlichen Folgewirkungen über Wochen ein ganzes Land regiert. Die gravierenden Nebenfolgen der Maßnahmen müssen jedoch mit den gesundheitlichen Auswirkungen der Pandemie abgewogen werden. Hierauf machte bereits früh in der Krise die Medizinethikerin Christiane Woopen xi-1, aber dann auch Politiker wie Armin Laschetxi-2 aufmerksam.  Was die Gesellschaft gegenwärtig betreibt, ist nichts anderes als impliziter Utilitarismus: Während sich Epidemiolog*innen auf ein medial und wissenschaftlich eingespieltes, globales Infektionswarnsystem verlassen können, in dem täglich die neuesten, zumeist kumulierten (also immer dramatischer klingenden) Infektionszahlen und Sterbefälle über sämtliche Kanäle verbreitet werden, werden die Nebenfolgen nicht in derselben Weise erfasst und in ähnlicher Weise der Bevölkerung in ihrer Eindringlichkeit vor Augen geführt. Dies betrifft Phänomene wie steigende soziale Ungleichheit durch ungleiche Bildungschancen bei Schulschließungen, die Durcheinanderwirbelung ganzer Erwerbsbiographen durch fehlende Ausbildungsplätze, vermehrten Kindesmissbrauch, gesundheitliche Schädigungen, die aus der Angst resultieren, das mit Corona beschäftigte Krankenhaus aufzusuchen, Verschlimmerungen von psychischen Erkrankungen durch soziale Isolation – auch und gerade für alte Menschen, die als Risikogruppen besonders geschützt werden sollen. Ganz abgesehen von den lokalen und globalen ökonomischen Folgen, die voraussichtlich Millionen Menschen in Arbeitslosigkeit und existenzielle Krisen stürzen wird.xii Diese Nebenwirkungen der Corona-Maßnahmen systematisch abzubilden und in Bürgerräten zu diskutieren, ist dringend notwendig, um Abwägungen vornehmen zu können.


All dies wäre ein Gebot politischer Verhältnismäßigkeit. Statt dessen bekunden staatliche Organe in der Bundesrepublik, dass sie von staatlichen Zensurmaßnahmen im Zusammenhang mit Corona-„Fake-news“, die die erwähnten „Verschwörungstheorien“ anheizen, Abstand nehmen wollen, aber sie verweisen gleichzeitig auf die Verpflichtung und die Möglichkeit von Youtube oder Facebook diese Zensurmaßnahmen mit privatwirtschaftlichen Mitteln algorithmisch durchführen zu lassen.xiiiDies ist wiederum Wasser auf den Mühlen derjenigen, die sich als „Verschwörungstheoretiker“ titulieren lassen müssen und die ihren Protest dann umso schriller ertönen lassen, solange sie das, ihrer Vorstellung nach, noch können und dürfen. Statt dessen ist es eine Überlegung wert, sich zu fragen, welchen Beitrag die Beschaffenheit der demokratischen Institutionen, die als „post-" oder „fassadendemokratisch“ beschrieben werden können, für das Umsichgreifen von „Verschwörungstheorien“ leisten. „Verschwörung“ – wer an eine solche glaubt, der nähert sich einem psychiatrierelevanten Wahn, so insinuiert man, und daraus speist sich auch der überhebliche Ton, es seien „Verrückte“, die solchen Auffassungen anhängen. Aber sind „Verschwörungstheorien“ so absurd in einer Welt, in der „Freihandelsverträge“ wie Ceta oder TTIP von Staaten und Lobbygruppen unter völligem Ausschluss genau der Zivilgesellschaft ausgehandelt werden, zu deren Gunsten diese Verträge angeblich ihre Wirkung entfalten sollen? Sind „Verschwörungstheorien“ so weit hergeholt, wenn Internet-Konzerne jede Bewegung, jeden Klick, jede Stimmung ihrer Nutzer*innen in gigantischen Serverfarmen speichern und diese Daten in einem intransparenten, globalen Netzwerk gehandelt, ausgewertet und daraus profitbringende Schlüsse über Verhalten und Persönlichkeit der user gezogen werden – und dies nun auch noch in einer Kollaboration der Quasi-Monopolisten Apple und Google, um eine globale Corona-Tracing-App zu ermöglichen? Sind „Verschwörungstheorien“ völlig unglaubwürdig angesichts einer Europäischen Union, deren ökonomische Integration seit Jahrzehnten von industriellen Lobbygruppen vorangetrieben, gleichzeitig aber jeder Diskurs über wirkliche Demokratie und Solidarität in Europa im Keim erstickt wird? Vorgänge dieser Art stellen die perfekte Gemengelage für das Entstehen von „Verschwörungstheorien“ dar. Diese überzeichnen in ihren krassen Ausprägungen diese realen Vorgänge und reichern sie phantastisch an, gespeist aus kollektiven Ängsten vor sozialer und kultureller Deklassierung.

Kurzum: „Verschwörungstheorien“ sind der Ausdruck von kognitivem und realem Kontrollverlust. Es gibt demnach ein wirksames Mittel, um ihnen die strukturelle Grundlage zu entziehen. Und zwar: Menschen die Gestaltung ihrer eigenen Lebenszusammenhänge selbstwirksam zu ermöglichen – mit direktdemokratischen Elementen in unserer repräsentativen Demokratie und Bürgerräten, deren sachliche Debatten auch unmittelbar folgenreich für reale politische Gestaltung sind. Wir brauchen lokalere, überschaubarere und gestaltbarere Bezüge für eigensinnige und eigenverantwortliche Lebensgestaltung. Wir brauchen mehr Demokratie und Mitbestimmung in allen Lebensbereichen – dann erübrigen sich auch „Verschwörungstheorien“. Und wir können uns auf die Krisenbewältigung konzentrieren. Zu deren Korrektiv weiterhin der Protest gehört.  

 

Fußnoten, Quellenangaben:

 

i Ich danke Stefan Bauer für hilfreiche Kommentare zu einer ersten Version dieses Textes.

ii Artikel Merkur 21.04.2020 Corona-Tote: ...Luftverschmutzung

iii Inspiriert sind diese Ausführungen erkennbar von Habermas, Jürgen (1996): Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt/M.: Suhrkamp

iv Vgl. die Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes vom 17.04.2020, AZ: 20 CE20.811

v Vgl. die Pressekonferenz des RKI am 20. März 2020

vi Vgl. den RKI-Situationsbericht vom 26.03., S. 6, Tabelle 4

vii Deutschlandfunk, 08. Mai 2020: Warum Infizierte nicht immer Erkrankte sind

viii Pressemitteilung Deutsche Gesellschaft für Pathologie e.V, April 2020: An Corona Verstorbene sollten obduziert werden 

ix Artikel FAZ 17.04.2020 Irren ist wissenschaftlich

x Interview NZZ 28.04.2020 Armin Nassehi über Corona

xi-1 Artikel FAZ 15.04.2020 Ethikerin zu Corona-Maßnahmen

xi-2 BR24 03.04.2020 Laschet fordert "Rückkehr zu verantwortungsvoller Normalität"

xii Gastbeitrag WiWo 04.05.2020 Es droht ein Jahrzehnt der Verzweiflung

xiii Artikel Welt 03.05.2020 Corona-Krise begünstigt Desinformation staatlicher Akteure