Zur Bundestagswahl

Warum der Ausgang der Bundestagswahl ein Argument für den Sachentscheid auf Bundesebene ist.

 

Hinter dem Land liegt ein Wahlkampf, ein Wahlkampf allerdings, der das Land kaum wirklich begeistert hat. Gewiss: Die Kandidat*innen von SPD, CDU, Bündnis90/Die Grünen, AFD und Linke und knapp drei Dutzend weiterer Parteien haben fleißig Auftritte auf Marktplätzen absolviert sowie mit unzähligen Bürger*innen gesprochen, um für ihre politischen Ideen zu werben. Allerdings ist trotz der massiven globalen und lokalen Herausforderungen der entscheidende Funke nicht übergesprungen. Die drohende Klimakatastrophe scheint nach wie vor eher als Angelegenheit einer Jugendbewegung wahrgenommen zu werden. Das langsame Internet in manchen Regionen des Landes und die prä-digitale Verwaltung nerven zwar viele Menschen, aber dennoch wirkt "Digitalisierung" eher wie eine Angelegenheit für IT-Fachleute. Und die überbordende soziale Ungleichheit, na ja, da kümmert sich doch schon irgendwie unser gut ausgebauter Sozialstaat darum. Das Verhandeln von dringend notwendigen Visionen in der viergrößten Volkswirtschaft der Welt und lebendigen, konstruktiven Streit in einer pluralen Gesellschaft stellt man sich anders vor.

Auch personell hätte es Anlass gegeben, Visionen zu entwickeln: Angela Merkel, die seit 2005 das Land regiert, tritt ab – anders als Helmut Kohl oder Gerhard Schröder gerade noch freiwillig.  Merkels Politikstil wurde in den zurückliegenden 16 Jahren häufig beschrieben: Er besteht im Kern darin, kontroverse Themen unterhalb der Wahrnehmungs- oder zumindest der Erregungsschwelle der Wähler*in zu halten und die harten Machtfragen statt dessen in geschlossenen Gremien zu moderieren. Man kann den Eindruck bekommen, als hätte genau dieser Politikstil auch den Geist des zurückliegenden Wahlkampfes geprägt. Der Grund hierfür lag diesmal allerdings nicht in der Merkelschen Taktik der "asymmetrischen De-Mobilisierung" im Wahlkampf. Sondern er bestand tatsächlich darin, dass die von den Parteien zu Spitzenkandidat*innen ausgerufenen Personen nicht mobilisieren konnten, Programme und Köpfe nicht zusammenpassten.  

In einer erhellenden Analyse hat der "Welt"-Journalist Robin Alexander deutlich gemacht, dass sowohl CDU als auch Die Grünen der Verführung verfallen sind, ihre Spitzenkandidat*innen nach der Binnen-Logik der jeweiligen Partei aufzustellen.[i] Gemäß dieser parteispezifischen Logik hat der Parteivorsitzende der CDU das Zugriffsrecht auf die Kanzlerkandidatur – und eben nicht der Vorsitzende der kleineren Schwesterpartei CSU. Nach zehn denkwürdigen Tagen im April, in der Söder und Laschet flankiert von Abstimmungen im CDU-Präsidium um ihren Anspruch auf eine Kandidatur rangen, setzte sich genau diese Logik durch. Der traditionellen Parteiräson der Schwesterparteien war entsprochen worden, auch wenn es angesichts der größeren Beliebtheit von Markus Söder in vielen Ortsverbänden von CDU und CSU rumorte, und das Konterfei von Armin Laschet im ländlichen Bayern schließlich eher verschämt und versteckt hinter großen Bäumen zu sehen war. Und auch bei den Grünen gab die Binnen-Logik der Partei den Ausschlag für die parteiinterne K-Frage. Traditionell eine Partei der Gleichstellung der Geschlechter, gab der regierungserfahrene Robert Habeck seiner 11 Jahre jüngeren Co-Vorsitzenden Annalena Baerbock den Vortritt bei der Kanzlerkandidatur.

Einzig bei der SPD setzte sich Olaf Scholz, der in der Pandemie durch sein besonnenes Auftreten im Ansehen vieler Bürger*innen gewinnen konnte, gegen die Parteilogik durch: Er wurde Kanzlerkandidat, weil man die "linken" Parteivorsitzenden Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans für nicht satisfaktionsfähig hielt. Allerdings war auch Scholz kein Kandidat der Herzen. Er schien aber in der Schlussphase des Wahlkampfs in der Wahrnehmung vieler Wählerinnen relativ zu Laschet und Baerbock das geringste Übel zu sein. Denn Laschet hingegen wirkte nach seinem feixenden Lachen im Flutgebiet, das seine Chancen auf das Kanzleramt abstürzen ließ, eher behäbig; und Baerbock agierte mit ihrem schnell hingeschusterten Buch, ihrem geschönten Lebenslauf und ihren nicht ordnungsgemäß angemeldeten Nebeneinkünftigen aus der Sicht vieler Bürger*innen mehr als unglücklich. Der Binnen-Logik erlegen war auch die Partei Die Linke, die es vor zwei Jahren vorgezogen hat, ihr bei den Wähler*innen mit Abstand beliebtestes Mitglied Sahra Wagenkecht aus dem Fraktionsvorsitz zu mobben und gegen sie ein (gescheitertes) Parteiausschlussverfahren wegen ihres Buches "Die Selbstgerechten" anzustrengen.

Das Ergebnis des Wahlkampfes ist bekannt: Die schon häufig hämisch für tot erklärte SPD landete bei rund 25 Prozent der Zweitstimmen, die Grünen blieben mit knapp 15 Prozent weit hinter ihrem selbst erklärten Ziel, um Platz eins mitzukämpfen, und CDU/CSU fuhren mit rund 24 Prozent das schlechteste Ergebnis ihrer Geschichte ein. Die Linke zog mit 4, 9 Prozent der Stimmen nur deshalb in den Bundestag ein, weil sie drei Direktmandate gewinnen konnte. Die AFD verlor 11 Sitze im Parlament – eine gute Nachricht für den liberalen Rechtsstaat. 

Im Verfassungsaufbau der Bundesrepublik Deutschland kommt den Parteien die Funktion zu, die Pluralität der Gesellschaft in den politischen Prozess zu übersetzen. Parteien artikulieren und bündeln Bedürfnisse, Wünsche und Interessen der Bevölkerung und bringen sie in den Gesetzgebungsprozess und das Regierungshandeln ein. Und selbstverständlich geht es dabei auch um Personen, von denen die Bürger*innen überzeugt sein müssen, dass sie ihnen als ihren Repräsentant*innen das gesetzgeberische und Regierungshandeln anvertrauen können. In diesem Bundestagswahlkampf haben wir allerdings erlebt, dass sich die Wertemuster von Parteien, die der internen Rekrutierung von politischem Personal zugrunde liegen, soweit von dem mehrheitlichen Wunsch der Wähler*innen entfernen können, dass ihnen noch nicht einmal das Schnödeste gelingt: der Machtgewinn als Voraussetzung visionärer politischer Gestaltung, die wir in diesen Zeiten dringender denn je benötigen.

Der zurückliegende Wahlkampf ist damit ein weiterer Beleg dafür, dass es dringend des Sachentscheids auf Bundesebene bedarf. Denn wenn die Parteien als Resonanzräume des politischen Wettbewerbs so weit erodieren, dass sie noch nicht einmal vor einem Verlust an Macht zurückschrecken, um ihrer internen Parteilogik zu genügen, dann braucht es dringend Mittel und Wege, um das demokratische Gestalten enger an die Bedürfnisse, Wünsche und Interessen der Wähler*innen heranzurücken. Der Sachentscheid auf Bundesebene und das durch ihn ausgelöste argumentative Ringen um einzelne politische Fragen ist hierfür das Mittel der Wahl. Entscheidende Themen der Zukunft wie die Klimakatastrophe, die Gestaltung digitaler Infrastrukturen und der soziale Ausgleich müssen das demokratische Herz der Menschen bewegen können. Um den richtigen Weg in diesen Fragen muss mit Leidenschaft und Verstand gerungen werden.

Politische Parteien sind in modernen Massendemokratien gewiss weiterhin notwendig, auch wenn die repräsentativen Demokratie durch den Sachentscheid ergänzt wird. Aber es braucht dringend eine De-Zentrierung der Parteienlogik –  gerade in Zeiten, in denen die Parteibindung ohnehin massiv abgenommen hat, die Gesellschaft pluraler wird, die Ansichten der Menschen zu Volatilität neigen und die Wählerwechsel zwischen den Parteien immer weniger althergebrachten Mustern folgen. Zudem führt die Verzwergung der ehemaligen Volksparteien SPD und CDU ohnehin zu einem massiven Legitimationsdefizit bei der Wahl der Kanzler*in lasst im Bundestag. Denn mehr als 75 Prozent der wahlberechtigten Bundesbürger*innen (einschließlich der Nicht-Wähler*innen) werden dessen Partei nicht gewählt haben.

Die Losung muss also fortan lauten: Erst das Thema, dann die politische Partei. Der Sachentscheid auf Bundesebene würde genau diese Logik in eine institutionelle Gestalt überführen. Und dann sind vielleicht die Köpfe hinter der "K-Frage" auch gar nicht mehr so wichtig.