Bürgerentscheide und Bürgerräte zusammen denken

Ein Bericht über die Anfänge einer neuen Kultur.


Auf den ersten Blick wirkt die Idee, mit Bürgerentscheiden Bürgerräte einzusetzen, ungewöhnlich. Seit vielen Jahren sehen alle Bundesländer die Möglichkeit vor, mittels Bürgerbegehren und Bürgerentscheid die Politik aktiv und vor allem verbindlich mitzugestalten. Um das Recht, Sachfragen auf kommunaler Ebene – die normalerweise von gewählten Vertreter:innen entschieden werden – zu den Bürger:innen zurückzuholen, wurde jahrelang gerungen. Einzelne Themen, die auch im Gemeinderat entschieden werden, können jetzt überall durch die Bürger:innen behandelt werden und Stadt- und Gemeinderatsbeschlüsse ersetzen. Die Würdigung, dass die Bürger:innen als Souverän auftreten, findet hier in besonderem Maße ihren Ausdruck.


In der Vergangenheit wurden Bürgerbegehren und Bürgerentscheide, also die Instrumente direkter Demokratie, immer in Abgrenzung zu Bürgerbeteiligungsverfahren betrachtet. Während die unterschiedlichsten Methoden der Bürgerbeteiligung lediglich eine beratende Funktion übernahmen, wurden mit ihnen immerhin verbindliche Entscheidungen getroffen. Daran hat sich nichts geändert. Dennoch erleben wir nun mit den Bürgerräten eine Weiterentwicklung der Demokratie dahingehend, dass die beiden Säulen, die direkte und die dialogische Demokratie, mehr und mehr zusammen gedacht werden. Und das ist sinnvoll! Auch auf kommunaler Ebene werden Entscheidungen komplexer und die Menschen möchten beteiligt werden, mischen sich ein. Da liegt es nahe, sowohl die Beratungskompetenz der Bürger:innen als Expert:innen des Alltags vor Ort, als auch die Entscheidungskraft derselben im politischen Prozess miteinzubeziehen.


Doch das ist im kommunalpolitischen Tagesgeschäft Neuland. So verwundert es zunächst nicht, dass Initiativen, die mittels Bürgerbegehren ein Bürgerbeteiligungsverfahren fordern, noch rar gesät sind und erst einmal auf Vorbehalte stoßen. Setzt es doch einen neuen Denkansatz voraus. Es setzt voraus, dass Politiker:innen aktiv die Kompetenz der Bürger:innen miteinbeziehen und sie als wichtigen Ratgeber im Entscheidungsfindungsprozess um ein Thema anerkennen. Politik wird so zu einem echten Miteinander. Es sind verschiedene Verbindungsmöglichkeiten von direkter und dialogischer Demokratie denkbar. Mittels eines Bürgerbeteiligungsverfahrens kann zunächst das Thema aufgefächert und priorisiert werden. Da stünde ein Beteiligungsverfahren am Anfang. Im Anschluss könnte dann in einem Bürgerentscheid über mögliche Alternativen abgestimmt werden. Ebenso könnte nach einer Grundsatzentscheidung durch einen Bürgerentscheid die weitere Ausgestaltung und der Umgang mit dem Thema in einem Beteiligungsverfahren erarbeitet werden. Ebenso denkbar ist aber auch, nach einem Bürgerbegehren und vor dem Bürgerentscheid eine weitere Alternative in einem Beteiligungsprozess mit zur Abstimmung zu stellen. Das würde das Argument entkräften, dass es am Ende nur eine Entscheidung dafür oder dagegen gibt. Oftmals braucht es Kreativität, um weitere Lösungen zu kreieren. Dafür sind Bürgerbeteiligungsverfahren eine gute Möglichkeit.


Nun gibt es in der Praxis noch eine weitere Kombination: mit einem Bürgerentscheid wird ein Bürgerbeteiligungsprozess gefordert. Den Bürger:innen gefiel schlicht nicht, was gewählte Vertreter:innen und Experten erarbeitet hatten. Sie wollten miteinbezogen werden. So fand in Memmingen (im Allgäu) ein Bürgerentscheid statt und war erfolgreich. Die Bürger:innen entschieden, dass die Planung für die Umgestaltung des Bahnhofareals gestoppt und stattdessen mit einem Bürgerbeteiligungsverfahren neu aufgesetzt werden soll. Auch in Amberg (Oberpfalz) läuft derzeit ein Bürgerbegehren, welches eine Planung im Altstadtbereich stoppen und dieses an ein Beteiligungsverfahren unter Einbeziehung der Bürger:innen geben möchte. In Neu-Ulm fordert eine Initiative mit einem Bürgerbegehren die Einsetzung eines gelosten Klimabürgerrats. Zwar gibt es auch Beispiele, bei denen solche Bürgerbegehren für unzulässig erklärt wurden mit der Begründung, das im Bürgerbegehren geforderte Bürgerbeteiligungsverfahren sei zu unbestimmt, nicht konkret genug und schlicht unüblich. Eine nachvollziehbare erste, aber hoffentlich nicht letzte Reaktion auf diesen neuen Denkansatz. Im Fall der Gemeinde Marquartstein zündete die Idee dann doch mit etwas Verzögerung. So wurde zwar das Bürgerbegehren abgelehnt, der Gemeinderat beschloss aber kurz darauf doch ein Beteiligungsverfahren.

Es sind die ersten Anfänge einer neuen Kultur. Nämlich die Bürger:innen sowohl als Berater:innen, als auch als Entscheider:innen ernst zu nehmen. Was es jetzt braucht sind viele erfolgreiche Fälle, die dann wieder als Vorbild für andere dienen können. Der Blick über die Grenze ins elsässische Kingersheim macht Mut für eine noch größere Vision. Dort ist der ehemalige Bürgermeister Joseph Spiegel mit seiner Gemeinde zum Pilotprojekt für Bürgerbeteiligung in Frankreich geworden. Denn hier arbeiten Bürgergremien mit ausgelosten Teilnehmer:innen Vorlagen für den Stadtrat aus. Klingt nach schöner Zukunftsmusik! /

Dieser Bericht ist in Ausgabe 03.21 des demokratie-magazins erschienen. Hier klicken, um das gesamte Magazin zu lesen.